Am bäuerlichen Küchentisch und im Alltag der Landwirte ist die Politik nicht erst seit der Ernährungssicherheitsinitiative des Schweizer Bauernverbandes dauerpräsent. Die Bauern und der Staat haben seit jeher eine wechselvolle Beziehung zueinander. Für lange Zeit war aber unbestritten, dass über die Landwirtschaft bestimmt, wer auch etwas davon versteht: die bäuerlichen Politiker, die Bauern.

Seit in den vergangenen Jahrzehnten aber immer mehr Nicht-Landwirte die Richtung der Agrarpolitik massgeblich mitbestimmten, hängt der Haussegen schief. Die Bauern sind zwar im Parlament nach wie vor dominant, aber keineswegs alleine auf weiter Flur. Statt gutbäuerlich pragmatisch vorwärts machen zu können, müssen die Bauernpolitiker wie ihre Kollegen im Bundeshaus Strippen ziehen, Allianzen schmieden und Hinterzimmerdiplomatie betreiben.

Und dann sind noch die tiefen Produktpreise, die lauten Debatten und der nervige Nachbar, der nichts mehr von der Landwirtschaft versteht und stattdessen über die Gülleausbringung stänkert. Die drei Faktoren setzen dem bäuerlichen Selbstverständnis massiv zu.

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Bauerndemos gab es schon 1960. (Bildquelle: http://galerie.fotodok.ch/archiv/lorenz-fischer)

Über all dem stehen die landwirtschaftlichen Verbände und ihre von Bauern gewählten Aushängeschilder. Diese Aushängeschilder kennen die Angst und Verzweiflung ihrer Kollegen. Manche wollen sich selbst profilieren, wirtschaften dabei auch mal in die eigene Tasche. Manche organisieren den Widerstand – gegen die falsche Bundespolitik. Gegen Freihandel. Gegen den Rest der Welt. Und wieder andere versuchen, dem Bauernstand irgendwie Hoffnung zu geben, dass es doch wieder besser wird, besser werden kann.

Das Prestigeprojekt und so etwas wie das „Piece de Résistance“ ist dabei die Ernährungssicherheitsinitiative, lanciert vom Schweizer Bauernverband. Sie soll nach innen wirken und die Bauern einen. Und langfristig soll sie nach aussen dafür sorgen, dass wieder über die Agrarpolitik entscheidet, wer etwas davon versteht: nämlich die Landwirte und ihre Politiker.

Ein Erklärungsversuch zur aktuellen (politischen) Lage der Schweizer Landwirtinnen und Landwirte.


Kapitel 1: Die Agrarreform macht die Bauern nicht mehr glücklich


Will man die Ernährungssicherheitsinitiative und ihre Bedeutung für die Landwirtschaft verstehen, müssen wir in der Zeit etwas zurückreisen. Vermutlich etwa dreissig Jahre, in die späten Achtziger-Jahre. Damals fand der Kalte Krieg sein Ende; die Welt schien ein besserer Ort zu werden. Doch es gab in diesen bewegten Zeiten ein Problem, dessen sich die Bauern und die Schweizer Öffentlichkeit nach und nach bewusst wurde: Produktionsüberschüsse in der Landwirtschaft- verursacht durch staatlich gestützte und geschützte Preise und Abnahmegarantien, von denen auch die Lebensmittelindustrie profitieren konnte. Diese protektionistische Marktordnung hat ihren Ursprung in einer anderen Epoche, nämlich in der Zeit zwischen dem Beginn des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Was heute nämlich Wenige wissen: Vor dem ersten Weltkrieg waren Grenzen und Agrarmärkte offen. Erst mit den günstigen Transportmöglichkeiten und der industriellen Revolution wurden Importe zur Bedrohung. Und während den Weltkriegen wurde die Versorgung der Schweiz zweimal ernsthaft gefährdet. Während man im ersten Weltkrieg noch etwas unbedarft in die Ernährungskrise schlitterte, hatte die Eidgenossenschaft  im zweiten Weltkrieg mit dem berühmten Plan-Wahlen vom späteren Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen vorgesorgt. Nach Kriegsende folgte 1951 das Agrargesetz und ein Marktordnung, die vor allem die Landesversorgung sichern wollte. Sollten Produktionsüberschüsse auftreten, würden diese auf Kosten der Steuerzahler auf dem Weltmarkt abgesetzt, während die Preise für Milch, Getreide und andere Güter staatlich fixiert wurden – der Landwirt hatte ein ziemlich sicheres Einkommen und musste sich um den Markt keine grossen Sorgen machen. Gleichzeitig fühlte er sich als Unternehmer, fühlte sich (mehr oder weniger) frei in seiner Entscheidung und in seinem Handeln, solange er die Rahmenbedingungen des Bundes akzeptierte. Die grüne Revolution und die Mechanisierung bescherte den Bauern in den sechziger, siebziger und achtziger-Jahren Produktivitätsfortschritte und nie gekannte Erträge.

So schön diese Zeiten für unsere Bauern waren, so verheerend war die Wirkung der immer grösser werdenden Produktionsüberschüsse für den Bund und die Steuerzahler. Denn die Überschussverwertung begann den Bund Milliarden zu kosten; die Umwelt litt unter der unverhältnismässigen Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln. Und im politischen System gab es widersprüchliche Programme. So wurde beispielsweise der Bau von Schweineställen subventioniert, um nur fünf Jahre später Stillegungsprämien einzuführen. Als dann der Bund Ende der 1980er-Jahre noch die Zuckeranbaufläche in der Schweiz ausdehnen wollte, schob das Volk dem Vorhaben einen Riegel vor. Die Bevölkerung wollte nichts mehr wissen von den Milliardenverlusten und versenkte den Zuckerbeschluss des Bundes. Es war dies wohl der erste Schritt in Richtung Agrarreform.

Ein weiterer Schritt vollzog der Bund 1993. Damals setzte man eine Direktzahlungsreform um. Fortan erhielten Landwirte Einkommensbeihilfen, während die Produktpreise leicht nach unten angepasst wurden. Wer besonders ökologisch wirtschaftete, konnte einen Bonus erwirtschaften. Unternahm ein Landwirt nichts, sank sein Einkommen aufgrund der tieferen Produktionserlöse.

Dieser Umbau erfolgte ganz im Zeichen der Uruguay-Runde, die zwischen 1986 und 1994 ausgehandelt wurde. Die Uruguay-Runde war die letzte Station der Verhandlungen innerhalb des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) und wurde 1994 in Marrakesh beendet. Das GATT wurde im Januar 1995 von der Welthandelsorganisation WTO abgelöst. Für die Schweizer Landwirtschaft bleiben die Ergebnisse der Uruguay-Runde bis heute die Richtschnur für die Agrarpolitik. Nach den Marrakesh-Beschlüssen mussten die Behörden der 123 Mitgliedsländer – darunter auch der Bund – dann passende Gesetzesvorlagen zimmern. Die Direktzahlungsreform und die dabei vollzogene Entkoppelung von Direktzahlungen und Produktpreisen war ganz im Sinne der Uruguay-Runde. Denn die damals auf Weltmarktpreisniveau verbilligten Lebensmittelexporte haben insbesondere in Entwicklungsländer derart geflutet, dass die dort ansässige Landwirtschaft kurzerhand unterging. Die Schweiz war in den späten Achtzigern bei weitem nicht das einzige Land mit einem Produktionsüberschussorientierten Agrarsystem. Das wollte man ändern, um auch in ärmeren Ländern die Landwirtschaft, und damit die dortige Ernährungssicherheit zu fördern.

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Kein glorreicher Tag für die Schweizer Landwirtschaft: am 12. März 1995 wurden alle drei landwirtschaftlichen Vorlagen versenkt.

Mit dem damit langsam aber stetig stattfindenden Umbruch musste die Landwirtschaft mitansehen und schrittweise erfahren, wie von aussen Druck gemacht wurde. Plötzlich war es den Bauern nicht mehr gegönnt, einfach schalten und walten zu können. Die eigentliche Ohrfeige gab es dann 1995, als man an einem Tag drei Abstimmungen verlor: Den Milchwirtschaftsbeschluss, die Abstimmung über den Landwirtschaftsartikel von 1951 und die Abstimmung zu den Solidaritätsbeiträgen. Der Milchwirtschaftsbeschluss wurde 1988 erlassen und nach und nach verändert. Bundesrat und Parlament haben dann am 21. April 1994 eigentlich eingewilligt, dass die damals geltende Milchkontingentierung durch den Kontingentshandel erleichtert und flexibilisiert werden soll. Gegen das Abstimmungsresultat im Parlament wurde das Referendum ergriffen, am 12. März 1995 kam die Vorlage vors Volk und wurde mit 63,5% Nein-Stimmen krachend versenkt. Dasselbe Schicksal ereilte am gleichen Tag die angedachten Solidaritätsbeiträge. Die Bauern hätten für gemeinsame Massnahmen auch einen Beitrag leisten müssen. Ob sie wollten oder nicht. Solidaritätsbeiträge können nicht solidarisch sein, wenn sie der Staat verordne, führten die Gegner an – und gewannen.

Noch ein Wort zum Verfassungsartikel: 1990 reichte der Schweizer Bauernverband eine Volksinitiative mit über 260 000 Unterschriften ein. Der Bundesrat schreibt in seinen Erläuterungen: „Zu deren Lancierung (damit ist die Initiative gemeint) hatte unter anderem geführt, dass sich die Landwirte angesichts des raschen Wandels ihres Umfeldes verunsichert fühlten. Bundesrat und Parlament entschieden sich in der Folge für einen Gegenvorschlag. Die Initiative wurde zugunsten des Gegenentwurfs zurückgezogen, so dass wir jetzt nur über diesen abzustimmen haben.“ Schon damals wollte man die Verfassung flexibilisieren. Nötig gemacht haben das die erwähnte, fehlende innenpolitische Akzeptanz, andererseits die durch die Uruguay-Runde der GATT vorangetriebenen Veränderungen im Grenzschutz und der Marktordnung verschiedener landwirtschaftlicher Produkte. Doch an diesem 12. März 1995 wollte das Volk noch nichts von einer Anpassung wissen. Mit 50,9% Nein-Stimmen wurde der Gegenvorschlag ebenfalls bachab geschickt. Damit war dann klar, dass nicht mehr die Bauern das Sagen über ihre Politik hatten.

Ein gutes Jahr später kam dann so etwas wie ein Befreiungsschlag – wenigstens für den Bund, der am 9. Juni 1996 einen neuen Auftrag für die Ausrichtung der Schweizer Landwirtschaft erhielt, der bis heute Bestand hat: der Artikel 104 in der Bundesverfassung.

Art. 104 Landwirtschaft

1 Der Bund sorgt dafür, dass die Landwirtschaft durch eine nachhaltige und auf den Markt ausgerichtete Produktion einen wesentlichen Beitrag leistet zur:

  • sicheren Versorgung der Bevölkerung;
  • Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Pflege der Kulturlandschaft;
  • dezentralen Besiedlung des Landes.

2 Ergänzend zur zumutbaren Selbsthilfe der Landwirtschaft und nötigenfalls abweichend vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit fördert der Bund die bodenbewirtschaftenden bäuerlichen Betriebe.

3 Er richtet die Massnahmen so aus, dass die Landwirtschaft ihre multifunktionalen Aufgaben erfüllt. Er hat insbesondere folgende Befugnisse und Aufgaben:

  • Er ergänzt das bäuerliche Einkommen durch Direktzahlungen zur Erzielung eines angemessenen Entgelts für die erbrachten Leistungen, unter der Voraussetzung eines ökologischen Leistungsnachweises.
  • Er fördert mit wirtschaftlich lohnenden Anreizen Produktionsformen, die besonders naturnah, umwelt- und tierfreundlich sind.
  • Er erlässt Vorschriften zur Deklaration von Herkunft, Qualität, Produktionsmethode und Verarbeitungsverfahren für Lebensmittel.
  • Er schützt die Umwelt vor Beeinträchtigungen durch überhöhten Einsatz von Düngstoffen, Chemikalien und anderen Hilfsstoffen.
  • Er kann die landwirtschaftliche Forschung, Beratung und Ausbildung fördern sowie Investitionshilfen leisten.
  • Er kann Vorschriften zur Festigung des bäuerlichen Grundbesitzes erlassen.

4 Er setzt dafür zweckgebundene Mittel aus dem Bereich der Landwirtschaft und allgemeine Bundesmittel ein.

Der Artikel wurde zur Grundlage für die Entwicklung der Agrarpolitik, wie man sie heute kennt. Aus jedem Bauer sollte ein Unternehmer gemacht werden, der selbst schalten und walten soll und kann. Nach langen Jahren von staatlich geschützten und gestützten Agrarmärkten schien es eine gute Idee, die Bauern und insbesondere die Produktpreise stärker vom tatsächlichen Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage bestimmen zu lassen.

Die Nachfrage soll – im Fall von Lebensmitteln und Agrarerzeugnissen – vom Markt gesteuert werden. Aber auch der Bund kann als Nachfrager von Dienstleistungen auftreten. Zum Beispiel kann der Bund die Bewirtschaftung von besonders steilen Hängen oder die Pflege von Hecken oder Blumenwiesen nachfragen. Anders gesagt: der Bund stellt Geld für die Erbringung gewisser Dienstleistungen zur Verfügung – die Direktzahlungen.

In den späten 1990er-Jahren machte sich die Verwaltung also daran, die Liberalisierung der Agrarmärkte voranzutreiben und damit auch Gesetze und Verordnungen umzupflügen. Wie es sich für die Schweiz gehört, hat man sich auf eine schrittweise Agrarreform geeinigt. Mit der AP 2002 wurde der Getreidemarkt liberalisiert, später wurde die Milchkontingentierung aufgehoben (2009) und schliesslich am ersten Januar 2014 das Direktzahlungssystem umgestellt und die neue Agrarpolitik, die AP2014-17 eingeführt. Kurz: Während mehr als zwanzig Jahren war für die Schweizer Landwirte die agrarpolitische Veränderung die Regel. Gleichzeitig mussten und müssen sich die Landwirte damit arrangieren, das ihre Produkte von Jahr zu Jahr weniger Wert sind.

Und das in einem System, in dem der Bund zuvor während Jahrzehnten die Einkommen indirekt subventionierte. Mit den Direktzahlungen indes war und ist es dem Landwirt theoretisch freigestellt, inwieweit er die staatlich nachgefragten Dienstleistungen erbringen will. Weil aber fast die Hälfte des landwirtschaftlichen Einkommens vom Staat abhängig ist, sind die Direktzahlungen, so unbeliebt sie sind, ein wichtiger Pfeiler zum Erhalt der bäuerlichen Existenz. Die Wahlfreiheit zwischen Produktmarkt und staatlich erzeugter Nachfrage zugunsten der Allgemeinheit existiert damit zuerst und vor allem in der Theorie; tatsächlich müssen sich viele Bauern den Programmen anpassen, damit sie Kredite, Hypotheken und laufende Kosten decken können.

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Hinzu kommt, dass die Politik in eine aus Sicht der Bauern völlig falsche Richtung läuft. Warum? Weil mit den Direktzahlungen plötzlich Aktivitäten auf den Höfen finanziert werden sollten, die nichts mehr mit dem Urverständnis der Lebensmittelproduktion zu tun haben. Warum soll ein Bauer einem Staat trauen, der für die Erhaltung einer Magerwiese Geld lockermacht, nicht aber die Nahrungsmittelpreise stützt oder für das Halten einer Kuh einen ordentlichen Betrag ausschüttet?

Es ist deshalb nicht überraschend, das mit der Ankündigung der AP2014-17 die Bauernvertreter noch unruhiger wurden. Zwar war schon lange klar, dass mit der AP2014-17 auch das Direktzahlungssystem umgestellt und damit die 1996 gefasste Richtung vollends auf den Höfen umgesetzt werden muss. Aber was es im Klartext der Gesetzestexte heissen würde, war bis dahin unklar. Als dann die AP2014-17 in die Vernehmlassung geschickt wurde, zeigte sich auch, was konkret zu erwarten war: Grossflächige Biobetriebe im Berggebiet konnten grundsätzlich mit höheren Beiträgen rechnen, durchschnittliche gemischtwirtschaftliche Betriebe in Tal- und Hügelregionen jedoch würden einen Teil der bis dahin mit Zähnen und Klauen verteidigten Einkommensquelle verlieren. Kurz: Mit den neuen Ausführungsbestimmungen stand die Umverteilung der Direktzahlungen an. Berg- und Biobauern profitierten, während Tal- und Nichtbiobauern dafür bezahlen mussten.


Kapitel 2: Das Referendum steht im Raum


Dass man einen zwanzigjährigen Ritt mit ständiger Veränderung hinter sich hatte, war plötzlich nebensächlich. Denn kurz nach der Eröffnung der Vernehmlassung stand plötzlich das Referendum im Raum: Bauern wollten die AP 2014-17 noch vor ihrer Einführung wieder versenken und den Hosenlupf mit dem Bund wagen.  Die Bauerngewerkschaft Uniterre hat dazu im April 2013 das Referendumskomittee gebildet.

Wortführer im Verlangen nach dem Referendum waren Martin Haab (SVP), Kantonsrat aus dem Kanton Zürich und Samuel Graber (SVP), Mitglied des grossen Rates im Kanton Bern. Daneben hat auch Rudolf Joder, zu dieser Zeit noch SVP-Nationalrat, das Anliegen massgeblich beeinflusst und geprägt. In der Agrarpresse sorgte die Referendumsdiskussion für reichlich Schlagzeilen, doch sie blieb eine Fussnote der Geschichte. Denn dem Referendumskomittee gelang es nicht, bis am 13. Juli 2013 die nötigen 50’000 Unterschriften zu sammeln. Wie der Landwirtschaftliche Informationsdienst am 11. Juli 2013 schrieb, mache sich bemerkbar, dass der Schweizerische Bauernverband (SBV) das Referendum nicht unterstützt.

Der SBV hielt sich nämlich zurück und mahnte zur Einsicht. Man sei auch nicht zufrieden, wurde stets betont. Aber einen Hosenlupf mit dem Bund wollte man in Brugg damals nicht wagen. Urs Schneider, Stellvertretender Direktor des SBV, erklärte an der Frühjahrsdelegiertenversammlung des Berner Bauernverbandes Lobag die Haltung des Vorstandes und sagte: „Ob man will oder nicht, es braucht Mehrheiten, wenn man etwas erreichen will(.)“ Die Mehrheit bei den Bauern meinte Urs Schneider damals nicht. Vielmehr ging es um die Mehrheit der Stimmbevölkerung, die nach Ansicht des SBV-Vorstandes damals nicht für das Referendum zu gewinnen gewesen wäre. Man beschloss, auf eine Vorwärtsstrategie zu setzen. Der SBV befand, dass man die künftigen Agrarpolitiken beeinflussen soll. Die Kröte der AP2014-17 jedoch musste man schlucken. Weil die AP2014-17 auch innerhalb der Landwirtschaft nicht nur Verlierer hervorbrachte, wollte man öffentlich ausgetragene Grundsatzdiskussionen zur politischen Ausrichtung der Landwirtschaft vermeiden. Zu stark war schon der Druck auf die Landwirtschaft – und in der politischen Arbeit ein geeintes Auftreten deshalb schon lange viel zu wichtig um es wegen der AP2014-17 aufs Spiel zu setzen.

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Sogar die SDA vermeldete die Vereinsgründung vom Verein für eine produzierende Landwirtschaft (VPL).

Das hinderte Rudolf Joder (damals SVP-Nationalrat) jedoch nicht, im Januar 2014 den Verein für eine produzierende Landwirtschaft (VPL) zu gründen. Er amtiert seither als Präsident; Samuel Graber, Thomas Knutti und Martin Schlup (alle drei SVP, BE) tun heute im Vorstand mit. Der VPL versteht sich als Verein, der für eine produzierende Landwirtschaft eintritt, die Nahrungsmittel für die Schweizer Bevölkerung herstellt. Von Freihandel, einem Ab- bzw. Umbau der Direktzahlungen will man wenig wissen. Auch neue Kontrollvorschriften und Auflagen, die das Bauernleben unnötig erschweren sind rote Tücher für die Vereinsmitglieder.

Noch schon vor der Vereinsgründung nahmen Rudolf Joder und Samuel Graber nach dem gescheiterten Referendumsversuch die Vorwärtssttrategie wörtlich und begannen, an einem Initiativtext zu arbeiten. Das Ziel: Die Bundesverfassung soll der sogennant produzierenden Landwirtschaft ihre Legitimation zurückgeben. Langfristig soll die Agrarreform und insbesondere die AP2014-17 wieder gekippt werden. Das Anliegen stiess in der Basis auf offene Ohren. Und das wiederum konnte der SBV, der schliesslich alle Bauern vertritt, nicht auf sich sitzen lassen. Die Verbandsspitze musste mitansehen, wie die eher konservative Spitze des VPL plötzlich Zulauf von Bauern erhielt und erst noch eine Initiative ausarbeitete.

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Der „Schweizer Bauer“ fasst zusammen, was der VPL im Kern möchte: einen Kurswechsel – obwohl die agrarpolitische Veränderungen in den letzten zwanzig Jahren die Regel war.

Deshalb prüfte man auch in Brugg, ob eine Initiative für die Schweizer Landwirtschaft zu lancieren sei. Der SBV hatte aus damaliger Sicht praktisch keine andere Wahl, wollte er weiterhin „die Bauern“ im Parlament vertreten. Schon damals mehrte sich die Kritik an zwei Initiativen. Ein Alleingang des VPL und ein Alleingang des SBV hätte nämlich genau dorthin geführt, wo man nicht landen wollte: in die Arena und in eine öffentlich ausgetragene Grundsatzdiskussion zur Ausrichtung der Landwirtschaft in der Schweiz.

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„BauernZeitung“ vom 8. November 2013

Zunächst sah es so aus, als ob man das Risiko eingehen wollte. So gab sich der SBV noch im November 2013 zuversichtlich. Zwar hat am 5. November die SVP, der Graber und Joder angehören, eine Landwirtschafts- und Ernährungsinitiative präsentiert. Davon liess man sich zunächst aber nicht beeindrucken – zwei Wochen später wollte man den eigenen Initiativtext von den SBV-Delegierten absegnen lassen.


Kapitel 3: Hier kommt die Ernährungssicherheitsinitiative


Der Bauernverband signalisierte stets, dass eine Einigung mit der Gruppe Joder/Graber nicht Bedingung aber Möglichkeit sei. Und tatsächlich gab es eine Einigung – nicht zuletzt wegen einem beherzten Kommentar in der „BauernZeitung“. Beide Komittees einigten sich auf eine gemeinsame Initiative. Der Schweizer Bauernverband übernahm wieder die Führungsrolle; Joder, Graber und andere Mitstreiter wurden an den Rand gedrängt. Die Ernährungssicherheitsinitiative wurde lanciert.

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Innert Rekordzeit sammelten die Bauern über 150 000 Unterschriften. Die Überreichung derselben wurde deshalb entsprechend gefeiert (Bild SBV).

Was dann folgte, war ein Lehrstück für alle Organisationen, die sich mit Unterschriftensammlung für Initiativen schwertun. Mit generalstabsmässig geplanten Sammelaktionen wurden innert dreier Monaten die nötigen 100 000 Unterschriften gesammelt. Und nur fünf Monate nach dem ersten Eintrag im Bundesblatt reichten am 8. Juli 2014  festlich gekleidete Bauern in Trachten und Edelweisshemden und Verbandsfunktionäre in Anzug mit Edelweisskrawatte (oder Foulard, im Fall der Frauen) bei strömendem Regen knapp 160 000 Unterschriften ein.

Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:

Art. 104a Ernährungssicherheit

1 Der Bund stärkt die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln aus vielfältiger und nachhaltiger einheimischer Produktion; dazu trifft er wirksame Massnahmen insbesondere gegen den Verlust von Kulturland einschliesslich der Sömmerungsfläche und zur Umsetzung einer Qualitätsstrategie.

2 Er sorgt dafür, dass der administrative Aufwand in der Landwirtschaft gering ist und die Rechtssicherheit und eine angemessene Investitionssicherheit gewährleistet sind.

Art. 197 Ziff. 11 11. Übergangsbestimmung zu Art. 104a (Ernährungssicherheit) Der Bundesrat beantragt der Bundesversammlung spätestens zwei Jahre nach Annahme von Artikel 104a durch Volk und Stände entsprechende Gesetzesbestimmungen. 

Anfang August vermeldete der SBV schliesslich, das 147 812 Stimmen für gültig erklärt wurden. Für den Bauernverband Beweis genug, dass die Bevölkerung hinter den Schweizer Bauern steht. Entsprechend euphorisch war dann auch die Stimmung.

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Markus Ritter sprach in der BauernZeitung vom 11. Juli 2014 von einem grossen Erfolg. „Alle haben sich riesig gefreut, dass wir die beste Sammelaktion seit über 20 Jahren erfolgreich abschliessen und die über 148 500 beglaubigten Unterschriften bei der Bundeskanzlei einreichen konnten.“ Auf die Frage, welche Gesetze mit der Ernährungssicherheitsinitiative konkret revidiert werden sollen, gab Ritter folgendes zu Protokoll: „Die Aufgabenteilung lautet wie folgt: Das Volk gibt mit der Bundesverfassung neue konkrete Ziele vor, deren Konkretisierung und Umstzung ist Sache von Bundesrat, Verwaltung und parlament. Es wäre falsch, wenn wir dieser Arbeit zuvorkommen und bereits versuchen würden, alles bis auf Gesetzes- oder sogar Verordnungsstufe auszuarbeiten wie es andere Organisationen in ihren Initiativtexten tun. Man verliert sich sonst und kann die Diskussion mit dem Volk, dem Bundesrat und den Behörden nicht mehr vernünftig führen. Das ist nicht unser Stil der politischen Arbeit.“

Schon diese Antwort zeigt, um was es bei der Ernährungssicherheitsinitiative geht: nicht in erster Linie um eine Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion, um mehr Grenzschutz oder andere, von Kritikern gerne angeführte Argumente. Vielmehr steht hinter der Initiative der Versuch, die Deutungshoheit über die Agrarpolitik zurückzuerlangen, die zwanzig Jahre früher an der Urne verloren ging. Denn die Einführung der AP2014-17 war eigentlich nur der letzte Schritt der noch etwas vor der bäuerlichen Abstimmungsschlappe 1995 angestossenen Agrarreform.

Die Ernährungssicherheitsinitiative ist aber auch ein Lehrstück für Realpolitik und die clevere Nutzung von politischen Instrumenten. Denn im winterlichen Brugg fand man sich im Januar 2013 in einem veritablen Dilemma wieder. Hätte man das Referendum unterstützt, hätte sich der SBV offen gegen die Bergbauern und die Profiteure der Anpassungen stellen müssen. Hätte man zwei Initiativen lanciert, wäre man in der Arena gelandet und hätte sich mit anderen Bauern öffentlich um die „richtige“ Agrarpolitik gestritten. Hätte man gar nichts gemacht, hätte man sich dem Vorwurf ausgesetzt, unter der Bundeshauskuppel nicht alle Bauern zu vertreten. Alles waren und sind keine Optionen für einen nationalen Verband, der die gemeinsamen Interessen der Bauern vertreten soll und muss.

Dabei hat die Einführung der AP2014-17 deutlich gemacht, dass es innerhalb der knapp 53’000 Landwirte unterschiedliche Positionen gibt. Denn in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Landwirtschaft, haben sich die Bauern und ihr Umfeld, massiv verändert. Bauern wurden unternehmerischer, haben eigene Zukunfts- und Geschäftsideen entwickelt und haben sich ein gutes Stück vom Staat emanzipiert. Es gleicht daher einem Eiertanz, es allen recht machen zu können. Letzteres ist aber für den starken Bauernverband nötig, will er seine Legitimation und seinen Einfluss erhalten.

Die Initiative war und ist damit auch ein Vehikel, die Position nach innen zu stärken. Doch ganz gratis erhält auch eine Organisation wie der SBV die Deutungshoheit über die Landwirtschaft nicht zurück. Was nämlich bis heute noch fehlt ist die Mehrheit vor dem Volk. Noch am regnerischen Julitag im Sommer 2014 sprachen Ritter und seine Mannen davon, die Initiative binnen drei bis vier Jahren vors Volk zu bringen. Man war sich damals sicher, dass man die Mehrheit gewinnen konnte.

Im April 2015 versuchte der Bundesrat, mit einem Gegenvorschlag die Bauern zu besänftigen, von der eingeschlagenen Richtung der Agrarpolitik zu überzeugen und die Initiative zu entkräften. Das Vorhaben ging aber gründlich in die Hosen, der Bundesrat musste von allen Seiten Kritik einstecken – der Gegenvorschlag war bald wieder vom Tisch.

Doch die Ernährungssicherheitsinitiative vom Bauernverband war deswegen noch lange nicht in trockenen Tüchern. Erste Anzeichen für einen harten Kampf waren bäuerliche Organisationen, die sich gegen die Initiative stellten. Und auch im Parlament war die Mehrheit keineswegs sicher – in der Nationalratsdebatte im März 2016 dauerte es mehr als sieben Stunden, bevor man zur Abstimmung kam. Mit 83 zu 91 Stimmen wurde dann die Initiative schliesslich doch relativ deutlich angenommen. Die Befürworter hätten es geschafft, einen „markanten Anteil der Skeptiker zur Enthaltung zu bewegen“, schrieb die BauernZeitung am 9. März 2016. Und auch aus den Wirtschaftsverbänden war schon das erste Säbelrasseln zu hören, die gegen die Initiative Stimmung machen wollten.

Von alldem wollte man beim Bauernverband damals noch nichts wissen. Die Bauernverbandspitze gab sich Siegesgewiss, auch nachdem man die Parlamentsdebatte für sich entscheiden konnte. Der Nationalrat hat der ESI formell zugestimmt. Nur der Ständerat musste noch über die Initiative befinden. Kritiker blieben eher eine Randerscheinung.

Eine Niederlage an der Urne war für den SBV zu diesem Zeitpunkt praktisch unvorstellbar. Eine knappe Niederlage wäre vielleicht noch zu verkraften gewesen. Eine klare Niederlage jedoch würde wohl die Schweizer Landwirtschaft und ihre Politik für geraume Zeit blockieren. Denn spätestes hier hätte man sich der Grundsatzdiskussion stellen müssen, wohin man in und mit der Schweizer Landwirtschaft überhaupt will. Und das jenseits der politischen Schlagworte, aber um die konkreten Interessen und Anliegen der Berg- und Talbauern, der Ackerbauern, Milchproduzenten, Gemüseproduzenten und aller Landwirte feilschend. Man würde öffentlich darum ringen, wie die Landwirtschaft in der Schweiz im 21. Jahrhundert aussehen müsste. Es wäre um die Frage gegangen, wie ökologisch Bauern sein könn(t)en. Wie nachhaltig die Landwirtschaft sein will und welche Rolle sie in der Gesellschaft in Tal-, Hügel-, und Bergregionen spielen soll. Und nicht zuletzt hätte man sich um die Frage gestritten, wie sich Staat, Markt und Bauern besser vertragen können und sollen. Eine Diskussion, die nicht nur viele Bauern, sondern auch einen grossen Teil der Öffentlichkeit überfordern dürfte und für dem SBV ein ziemlich grosses Risiko darstellt.


Teil 4: Der Ständerat übernimmt


Als dann im November 2016 der Ständerat über die Initiative beriet, war die Schweizer Bauernlobby wohl ziemilch angspannt. Man wusste, das die kleine Kammer gegen das bäuerliche Anliegen stimmt.

Eine Niederlage muss also um jeden Preis verhindert werden. Und dann kam der Paukenschlag. Der Ständerat hat einen Gegenvorschlag präsentiert, der alle überzeugte: den Bauernverband ebenso wie die Wirtschaftsverbände und alle relevanten Parteien.

Der Gegenvorschlag des Ständerates

Zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln schafft der Bund Voraussetzungen für:

  • die Sicherung der Grundlagen für die landwirtschaftliche Produktion, insbesondere des Kulturlandes;
  • eine standortangepasste und ressourceneffiziente Lebensmittelproduktion;
  • eine auf den Markt ausgerichtete Land- und Ernährungswirtschaft;
  • grenzüberschreitende Handelsbeziehungen, die zur nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft beitragen;
  • einen ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln.

Der Gegenvorschlag ist im Vergleich zur Initiative klarer formuliert. Der Gegenvorschlag lasse weniger Interpretationsspielraum, befand dann auch die Ratsmehrheit, schrieb die SDA am 25. November 2016. 38 Ständeräte haben sich in der Abstimmung für den Gegenvorschlag ausgesprochen, nur vier votierten dagegen. Die Initiative des Bauernverbandes jedoch war – wie erwartet – in der kleinen Kammer chancenlos.

Statt stur auf der Initiative zu beharren, packte man beim SBV die Chance beim Schopf und begann, den Gegenvorschlag nicht nur zu prüfen, sondern zu unterstützen. Der Gegenvorschlag wird von allen Parteien unterstützt, die Wirtschaftsverbände haben bisher ihren Widerstand nicht angekündet. Und die kleinen Bauernorganisationen sind heute beim SBV eingebunden, ein Referendum von Uniterre zumindest ist nicht in Sicht. Unklar bleibt, wie es zu der Idee im Ständerat kam – das scheint aber zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht relevant zu sein.

Zwar muss die SBV-Spitze jetzt der Basis erklären, warum die eigene Initiative zwar gut, aber eben nicht perfekt ist. Aber der Bauernverband erhält wohl zurück, was er schon lange Zeit zurückhaben wollte:  Die Deutungshoheit über die Agrarpolitik in der Schweiz.


 

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